Die Geburtsstunde
15. Oktober 1930. Der Zürcher Schlittschuh Club
erblickt das Licht der Sportwelt. Der zuvor den Eiskunstläufern reservierte
Verein avanciert in dieser geschichtsträchtigen Stunde zu einer der ersten
Immigrantenbewegungen der Stadt: Abgesehen vom späteren Bob-Weltmeister Fritz
Feierabend aus Engelberg kommen seine Mitglieder ausnahmslos aus Graubünden.
Weil niemand ins Tor stehen will, wird Landhockey-Goalie Gusti Wiget zu einem
Branchenwechsel überredet. Wiget muss seinen Entscheid nicht bereuen. Nach
gewissen Anlaufschwierigkeiten und Niederlagen in Davos und Mailand lehrt der
ZSC den Gegnern das Fürchten. Auf der neuen Kunsteisbahn Dolder bezwingt er den
Grasshoppers-Club 14:1.
67 Jahre später schlägt der Stadtrivale zurück
- unbarmherzig, kompromisslos.
Weil die Grasshoppers in den B-Play-offs gegen
Herisau ein Tor zu wenig schiessen, ihr Präsident Walter Frey aber noch immer
von der Nationalliga A träumt und weil der Zürcher SC scheinbar unaufhaltsam
auf den wirtschaftlichen Abgrund zurast, bleibt kein Stein auf dem anderen. Die
Lions werden geboren - als Allianz der ungleichen Nachbarn und mit einer
nachhaltigen Verschiebung der Machtverhältnisse. Im Hallenstadion hat plötzlich
der frühere Erzrivale das Sagen. Die Löwen drohen den ZSC schon in ihrer
Geburtsstunde zu fressen. Erst nach heftigen Protesten der Basis hält die neue
Führungscrew am prestigeträchtigen Kürzel fest. Doch die Zusammenarbeit der ungleichen
Nachbarn wird zum sportlichen Gütsiegel, das landesweit Massstäbe setzt: Die
notorischen Verlierer, die sich in den raren Momenten des sportlichen Glücks
(nach einem Sieg gegen Olten oder so) feiern liessen wie Helden der Nacht,
werden zur Nummer 1 des Landes. 2000 und 2001 gewinnen die ZSC Lions die ersten
Titel der Neuzeit.
Die ersten Schritte auf Kunsteis
Wie die Seegfrörni von 1929 zum Bau der
Dolder-Sportanlage anregte und das Schweizer Eishockey in eine neue Ära führte.
Im Dezember 1930 begann eine Neuzeit im
Schweizer Eishockey. Was im benachbarten Ausland längst gang und gäbe war,
wurde auch in der Schweiz Realität: Kunsteis. Kunsteisbahnen in sogenannten
Eispalästen wurden schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts gebaut; doch lechzten
die Eisläufer (damals) nach frischer Luft und verlangten Open-Air-Arenen. Die
erste entstand 1909 in Wien, derweil sich die Schweizer
Schlittschuhläufer-Gilde noch jahrzehntelang mit dem unzuverlässigen Natureis
begnügen musste. Die künftige Zürcher Eishockey-Elite «knebelte» auf vereisten
Schulhausplätzen oder auf dem Resiweiher, dem EWZ-Wasserreservoir beim
Rigiblick.
Im Winter 1928/29 waren die Buben indes
temporär nicht mehr auf den kleinen Resiweiher angewiesen. Sie dislozierten mit
ihren Brüdern, Schwestern, Eltern, Tanten und Onkeln auf den wesentlich
grösseren Zürichsee. Die Seegfrörni 1929 bescherte Zürich einen kolossalen
Eislauf- Boom. Als das Eis den Kampf gegen Föhn und Sonne zu verlieren begann,
nutzte der junge Zürcher Jurist und Schweizer Eislaufmeister Georg Gautschi die
Gunst der Stunde und forderte in einem Zeitungsartikel keck den Bau einer
Kunsteisbahn. NZZ-Abonnent Carl Wehrli-Thielen, der Präsident der Dolderbahn
AG, las Gautschis Zeilen und schaltete schnell. (Den VCS gab's damals noch
nicht.)
Die Leute vom Dolder
gründeten am 20. August 1930 eine Eisbahn-Genossenschaft und weihten bereits im
darauffolgenden Dezember die erste Schweizer Kunsteisbahn ein. Sie war und ist
noch heute die grösste zusammenhängende Kunsteisfläche unseres Landes, 6000
Quadratmeter, was weit mehr als drei Eishockeyfeldern entspricht. Der sportfreundliche
Dolder-Direktor Aldo Streuli organisierte eine Schülermeisterschaft, aus der
praktisch alle Zürcher Eishockey- Internationalen jener Generation
hervorgingen. Doch auch die «Grossen» tummelten sich Eishockey spielend auf dem
Dolder. Drei Vereine buhlten damals um die Stadtzürcher Vorherrschaft: der
Akademiker HC, die Grasshoppers und der am 13. Oktober 1930 gegründete ZSC. Der
Davoser und spätere Dietiker Zahnarzt Fritz Kraatz, 1926 mit der Schweizer
Nationalmannschaft Europameister und von 1951 bis 1954 Präsident des
Internationalen Eishockeyverbandes (IIHF), lobte die jüngste Zürcher
Sehenswürdigkeit: «Die Dolder-Eisbahn ist sehr, sehr vornehm. So vornehm, dass
sie das plebejische Gewimmel der Stadt völlig meidet. Hoch oben auf dem Berg
thront sie. Gross, prächtig. Wenn es geschneit hat, ein Wintermärchen,
unglaublich schön. Jetzt könnt ihr Davoser einpacken. In ein bis zwei Jahren
übertrumpfen wir euch alle», sagte der Präsident des Akademiker HC zu uns, als
wir eines der ersten Spiele auf dem Dolder austrugen.
Fehlprognose!
Nur viermal – 1936, 1949 und 1961 der ZSC sowie 1966 die Grasshoppers - durchbrachen Zürcher, obwohl sie scharenweise Bündner anheuerten, die Davoser Landesmeister-Serie. Kraatz lieferte fürs notorische Scheitern folgende Begründung: «Neben diesem übertriebenen Import von Spielern, der dem Zürcher Nachwuchs die Möglichkeit und Hoffnung nahm, selber einmal an die Spitze zu kommen, war noch ein anderer Grund schuld, dass die oben erwähnte Prophezeiung nicht eintraf. Die meisten, wenn nicht alle Spieler - mit Ausnahme der Kanadier - sind berufstätig. Es ist praktisch ausgeschlossen, über Mittag auf den Dolder zu gehen, zu trainieren und um 14 Uhr wieder im Geschäft zu sein. Was bleibt? Der Abend. Müde und abgespannt nach langer Tagesarbeit kommt der Spieler auf die Eisbahn. Anstatt Sonne blendet ihn der Tiefstrahler. Anstatt goldenen Glanzes umgibt ihn Nebel. Es ist nicht möglich, die Spieler so fit zu bekommen wie in den Bergen.» Dennoch blieb der ZSC dem Dolder zwanzig Jahre treu; erst im November 1950 dislozierte er ins Hallenstadion. Der Umzug nach Oerlikon war ein sportkultureller Tabubruch. Denn Eishockey als Indoor-Sportart war damals undenkbar. So drohte der damalige Verbandspräsident Raymond Gafner dem ZSC mit Ausschluss aus dem Ligabetrieb, wenn er sich erfreche, unter einem Dach zu spielen. Eishockey sei ein Open-Air-Spiel. Da es den ZSC noch immer gibt, ist anzunehmen, dass sich Monsieur le président irrte. Der Dolder derweil mutierte vom Spitzensport-Mekka mit bis zu 15‘000 Eishockey-Zuschauern zum Eissport-Treffpunkt für jedermann, für Möchtegern-Eisprinzessinnen, mehr oder weniger elegante Eisläufer, wackere Eisstockschützen, Curler, Eistänzer und neulich sogar für Schlittenhunde. 100’000 bis 200’000 Hobbysportler tanken Jahr für Jahr von Oktober bis März auf der seit 1996 der Stadt gehörenden Anlage gesunde Waldluft. Die Handänderung vollzog sich in zwei Etappen. 1961 erwarb die Gemeinde Zürich das 16 514 m² umfassende Eisbahnareal für 744 000 Franken im Baurecht, am 7. Februar 1996 löste die Stadt den Baurechtsvertrag mit der Dolderbahn AG auf und übernahm als alleinige Besitzerin die in die Jahre gekommene sporthistorische Monument. Dessen Sanierung verschlang 17,1 Millionen Franken. Weil die im Auftrag der Stadt operierende Dolder Betriebs AG ohne Spitzensport stets im roten Bereich vegetiert, schiesst die öffentliche Hand jährlich rund 375 000 Franken zu. Dessen ungeachtet machte Turicum vor knapp neunzig Jahren kein schlechtes Geschäft. Land an Zürichs schönster Lage, unverbaubar, staubfrei, Wellness-Oase, für 45 Franken pro Quadratmeter.